Opening and Talk by Otto Neumaier, Salzburg/Austria 2005, (German language)

By Feet
Das Motiv des “by feet” gehört zu denen, die sich wie ein roter Faden durch das Schaffen von Jårg Geismar ziehen. So erkundete er etwa in seinem Beitrag zur Architekturbiennale 2000 in Venedig “future by feet”, während es im selben Jahr bei einer Ausstellung in Graz um “Doing by Hands, Looking by Feet” ging.
Welchen “Witz” hat es letztlich, Dinge zu Fuß zu betrachten oder zu Fuß in die Zukunft zu gehen? Sind unsere Füße nicht ein überholtes, ineffizientes Fortbewegungs- und Erkenntnis­mittel? Schließlich haben die Menschen nach Ansicht von Wissenschaftlern und Philosophen ja Technologien erfunden, um die Dinge näher an sich heranzubringen, um sie besser zu er­kennen und dadurch das Leben der Menschen zu verbessern. Dazu gehören auch Technolo­gien, die uns ermöglichen, dass wir uns den Dingen, darunter auch einander, schneller an­nähern.
Diese Sichtweise beruht freilich auf ganz bestimmten Voraussetzungen. Dass es sich dabei nicht um ein oberstes Ziel handelt, können wir erkennen, wenn wir einen Blick zurück wer­fen: Es war einmal, dass sich Menschen hauptsächlich zu Fuß fortbewegten und dadurch eine bestimmte Sicht der Welt gewannen. Allmähliche entwickelten sie – insbesondere mit Eisen­bahn, Auto und Flugzeug – immer schnellere Fortbewegungsmittel und dadurch eine andere Perspektive von der Welt, durch die manches früher scheinbar Selbstverständliche in Frage gestellt wurde. Auf diese Weise gewannen wir also neue Erkenntnis, und Ähnliches gilt für die neuen Medien, durch die Informationen immer schneller bis in entlegenste Winkel der Welt gelangen.
Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass wir uns heute mehr oder weniger an die Geschwin­digkeit gewöhnt haben und dass uns die damit verbundene Sicht der Welt nahezu selbstver­ständlich erscheint. In dieser Situation ist notwendig, dass wir durch Verlangsamung wieder eine andere Sicht der Welt gewinnen. Das heißt, wir müssen wieder lernen, die Dinge “zu Fuß” zu sehen, sozusagen mit menschlichem Augenmaß.
Wer zu Fuß geht, sieht vor allem die unmittelbare Umgebung genauer, das heißt, jenen Be­reich, der uns im täglichen Leben hauptsächlich angeht. Das heißt nicht, dass wir auf diese Weise die Welt schlichtweg schöner oder angenehmer erfahren. Vielmehr hat das, was uns umgibt oder unser Leben letztlich ausmacht, auch seine beunruhigenden, schrecklichen oder absurden Seiten.
Einen Eindruck davon vermittelt uns die Titel gebende Arbeit von Geismars Ausstellung in der Galerie 7hours in Berlin: Die Bilder, die der Künstler “by feet” in Tokyo aufgenommen hat, wirken fremdartig, beunruhigend, ja zum Teil Schwindel erregend. Das hat natürlich zunächst mit der besonderen Perspektive zu tun (wozu gehört, dass die Kamera stets auf den Boden gerichtet ist, den wir wiederum an die Wand gekippt sehen), mit den harten Schnitten und jähen Richtungsänderungen, mit dem dauernden Wechsel von Laut und Stille, sowie mit anderen ästhetischen Merkmalen der Arbeit.
Um in einem tieferen Sinne zu verstehen, was dabei in uns vorgeht, bietet sich noch einmal unser Rückblick an: Aus dem 19. Jahrhundert wird glaubhaft berichtet, dass die neuen Ma­schinen mit der “höllischen” Geschwindigkeit von gut 20 km/h den Menschen Schwindel­gefühle verursachten. Heute sieht es so aus, als ob ein solcher Schwindel eher durch die Kon­frontation mit unserer unmittelbaren Umgebung und unserem alltäglichen Leben erregt wird (was u.a. die Frage aufwirft, ob die Geschwindigkeit für uns möglicherweise auch ein Mittel geworden ist, das uns davor schützt, uns jenen “Dingen des Lebens” zu stellen – was unsere Lust an dem von Paul Virilio beschworenen “rasenden Stillstand” bis zu einem gewissen Grad erklären könnte).
Wie es in der Einladung zu Geismars Ausstellung über die Arbeit “by feet” heißt, ist diese “künstlerischer Ausdruck eines plötzlichen Einbruchs von Fremde”. Dieser Eindruck ist tat­sächlich nicht von der Hand zu weisen. Was aber ist Fremde? Eine nahe liegende Möglichkeit ist, sie als etwas zu verstehen, zu dem wir nicht zu gehören scheinen, oder umgekehrt etwas, das nicht zu uns zu gehören scheint.
Der Psychologie verdanken wir die Einsicht, dass das, was uns an anderen Menschen oder Kulturen fremd erscheint, oft etwas ist, was uns an uns selbst fremd oder unvertraut erscheint, auch etwas, das wir an uns selbst nicht erkennen möchten und deshalb aus unserem Selbst-Bewusstsein verdrängen. Dazu gehören Triebstrukturen ebenso wie dunkle Seiten unseres Charakters oder das, was in gewissem Sinne dem Leben fremd und doch notwendigerweise damit verbunden ist: der Tod.
Die Art und Weise, wie wir mit dem Fremden umgehen, ist mithin ein Zeichen dafür, wie wir mit uns selbst umgehen. Der Versuch, das uns fremd Erscheinende zu verstehen, ist letztlich ein Versuch, uns selbst zu verstehen. Beim Versuch, uns selbst zu verstehen, sind wir jedoch wesentlich darauf angewiesen, andere zu verstehen.
Der Versuch, uns selbst und einander zu verstehen, ist nichts anderes als Kommunikation. Eben diese steht jedoch im Mittelpunkt von Geismars Kunst im Allgemeinen sowie der Arbeit “by feet” im Besonderen: Mit seinem künstlerischen Ansatz geht es Geismar nicht zuletzt darum, Kommunikation anzuregen. In der Kommunkation bedienen wir uns zwar vieler natürlicher oder künstlicher Medien, doch verlangt sie in bestimmtem Sinne, dass wir “zu Fuß” unterwegs sind, denn wenn wir einander verstehen wollen, müssen wir aufeinander zu­gehen. Diese Redewendung ist wohl vom Volksmund mit Bedacht gewählt. Hochgeschwin­digkeitsmetaphern treffen die Sache nicht, weil “echte” Kommunikation verlangt, dass wir auf etwas oder einander eingehen.
Dies gilt auch für das Werk “by feet”. Wie erwähnt, lässt sich diese als “künstlerischer Aus­druck eines plötzlichen Einbruchs von Fremde” verstehen. Dies ist allerdings nicht pathetisch oder metaphysisch gemeint. Geismar singt nicht wie Schubert: “Fremd bin ich einzogen, fremd zieh ich wieder aus.” Der Unterschied wird allein schon dadurch klar, dass diese Arbeit nicht für sich allein steht, sondern mit anderen Arbeiten und Räumen der Ausstellung “kom­muniziert”, nicht zuletzt dadurch, dass ihr Klang in den Räumen daneben und darunter stän­dig zu hören ist (und ein zackiger Schritt auf hartem Boden in der Klanginstallation “The Crossing” in einem der Außenräume aufgegriffen wird). Die Arbeit “The Conductor III”, die unter “by feet” im ehemaligen Stallraum installiert ist, verweist zudem durch den Titel und den (bei Geismar immer wieder zu findenden) Einsatz von Kabeln und Schnüren auf die Übertragung oder den Austausch von Energie.
Es erscheint mir keineswegs übertrieben zu behaupten, dass Jårg Geismar wie kein anderer ein Künstler der Kommunikation ist. Beispielhaft lässt sich das etwa an folgenden Merkmalen seines Schaffens aufzeigen:
(i) Bei allen auch nur einigermaßen komplexen Ausstellungen des Künstlers finden wir eine intensive Kommunikation zwischen Räumen. Das setzt natürlich voraus, dass Geismar, sofern dies möglich ist, alle verfügbaren Räume einer Institution für seine Installationen nutzt. Ein Beispiel dafür ist nicht nur die gegenwärtige Ausstellung, sondern auch seine frühere in der Galerie 7hours, damals noch im Turm des Märkischen Museums in Berlin. Das Bemühen um eine Kommunikation zwischen Räumen ist wohl auch ein Grund für Geismars Bevorzugung ungewöhnlicher Ausstellungsräume, die uns eine andere Sicht auf Kunst außerhalb des “White Cube” erlauben. Um diese Kommunikation zwischen Räumen zu erfassen, ist aller­dings notwendig, dass wir darin langsam und lange herumgehen, sie also “zu Fuß” erfahren.
(ii) Für Geismars Schaffen ist zudem die Kommunikation zwischen Werken charakteristisch. Zwar sind seine Installationen jeweils auf die spezifischen Orte bezogen, doch werden dafür Konzepte eingebracht, die der Künstler zum Teil schon lange verfolgt, und es werden auch Werke ständig weiter entwickelt und in neue Konstellationen eingebunden. Wer nicht nur einen Blick auf die Werke wirft, sondern sie “lange und wiederholtermaßen betrachtet” (was laut Lessing für den Umgang mit jeglicher Kunst notwendig ist), kann so gesehen durch ein ganzes künstlerisches Leben spazieren.
(iii) Ein ebenso wichtiger Aspekt von Geismars Werk ist die Kommunikation zwischen Kul­turen. So gut wie jede Ausstellung präsentiert uns mit verschiedenen kulturellen Erfahrungen aus allen Teilen der Welt. In der gegenwärtigen Ausstellung sind wir auf den ersten Blick mit Japan konfrontiert, da alle Räume Namen von Stadtteilen Tokyos tragen. Die Titel der in den Räumen gezeigten Werke verweisen jedoch darüber hinaus – und zum Teil explizit in andere Weltgegenden: So präsentiert sich etwa eine Arbeit als “New York Memory” (wobei als zu­sätzlicher Gesichtspunkt die Vorstellung von Erinnerung als Kommunikation mit uns selbst ins Spiel kommt). Kommunikation zwischen Kulturen spielt bei Geismar noch in einem an­deren, konkreteren Sinne eine Rolle, nämlich durch die Anregung interkultureller Kommuni­kation – so geschehen etwa 1999 beim Projekt “Living, Loving and Doing”, mit dem Geismar einen bis heute anhaltenden Austausch von Künstlern in Schweden und Sambia initiierte.
(iv) Damit ist schließlich ein weiterer für Geismar wesentlicher Punkt angesprochen, nämlich dass er seine Werke als Anregung zu Kommunikation auffasst. Die von Geismar eingesetzten ästhetischen Mittel dienen nicht zuletzt diesem Ziel, sei es durch spezifische Arrangements in seinen “Fish Dinners”, durch welche die beteiligten Menschen geradezu ins Gespräch kom­men müssen, sei es durch ungewöhnliche Perspektiven, über die wir reden können und müs­sen (wie z.B. bei der in Berlin gezeigten Arbeit “Something Above My Head” in Form von Schuhen, die über den Menschen so an der Wand befestigt sind, dass sich den Betrachtern die mit Zeichnungen versehenen Unterseiten darbieten), sei es dadurch, dass eine Installation (wie z.B. “The Collector III” mit der dadurch im Raum geschaffenen Atmosphäre rätselhaft erscheint. Dies ist nur eine kleine Auswahl von Anregungen zur Kommunikation, die in Geis­mars Arbeiten stecken. Um diese Anregungen und damit die Intentionen des Künstlers zu er­fassen, nicht zuletzt aber, um sich aufgrund dieser Erfahrung auf Kommunikation einzulas­sen, ist jedoch wiederum notwendig, dass wir uns (im mehrfachen Sinne des Wortes) “zu Fuß” bewegen –auf die Arbeiten zu- und eingehen.
Angesichts all dieser Gegebenheiten lässt sich sagen, dass Geismars Ausstellung “by feet” nicht nur charakteristisch für sein Schaffen ist, sondern dass sie auch Ausdruck von etwas ist, was wohl für jegliche Kunst wesentlich ist und was Jårg Geismar in einem Gespräch folgen­dermaßen auf den Punkt brachte: “So schön es ist, seine Werke auszustellen, so geht es doch nicht um die Ausstellung als solche, sondern um den Austausch zwischen den Menschen, der dadurch entsteht.”
Otto Neumaier